Hier soll im Rahmen unserer medizinhistorischen Betrachtungen der wahrscheinliche Erfinder des wohl bekanntesten Arzneiwirkstoffs ASS (Abkürzung für Acetylsalicylsäure) gewürdigt werden: Dr. Arthur Eichengrün, Chemiker und Inhaber zahlreicher Patente.
Ernst Arthur Eichengrün wird am 13. August 1867 in Aachen als Sohn eines Textilhändlers geboren; hier absolviert er auch seine schulische Ausbildung, die er 1885 mit dem Abitur abschließt, um sich dem Studium der Chemie zu widmen. Seine Studienorte sind Aachen, Berlin und zuletzt Erlangen, wo er 1890 promoviert. Nach ersten Arbeitsstätten als wissenschaftlicher Assistent an der Universität Genf und beim Pharmahersteller Boehringer Ingelheim kommt Eichengrün zum Chemieunternehmen Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. mit Sitz in Elberfeld (heute Wuppertal).
1895 überträgt ihm Carl Duisberg (1861 – 1935), der dortige Leiter der Forschungsabteilung, die Verantwortung für das pharmazeutische Laboratorium. Arthur Eichengrün leitet nun ein Team von Chemikern, die an der Entwicklung von Arzneimitteln arbeiten, er forscht aber außerdem auf seinem Spezialgebiet Acetylcellulose. Hieraus gelingt ihm die Herstellung neuartiger Werkstoffe, die später als unbrennbares Isolationsmaterial, als Lacke und Folien sowie für zahllose plastische Artikel Verwendung finden. Patentname des Kunststoffs: Cellon.
Der wohl bedeutendste Arbeitserfolg des Dr. Eichengrün ist hingegen ab 1897 die Weiterentwicklung der bereits als pharmakologisch wirksam bekannten Salicylsäure. Die Substanz wirkt schmerzstillend und fiebersenkend, weist aber noch starke Nebenwirkungen auf. Nach dem heutigen Stand der medizinhistorischen Forschung ist es sehr wahrscheinlich Arthur Eichengrün, der seinem Mitarbeiter Felix Hoffmann die richtigen Impulse zur Herstellung von chemischen Ablegern der Salicylsäure gibt. Eine der so synthetisierten Substanzen, nämlich Acetylsalicylsäure, erscheint besonders vielversprechend: Mindestens gleich gut wirksam bei besserer Verträglichkeit. Arthur Eichengrün testet die Substanz im Selbstversuch und verschickt sie an ihm bekannte Ärzte, die ihm alsbald ebenso positive Erfahrungen übermitteln. Er ist es auch, der den Markennamen für das neue Präparat findet: Aspirin®, eine Wortbildung, bei der das „A“ für Acetyl und „spirin“ für die Pflanze spiraea ulmaria (Mädekraut) steht, ein Gewächs, welches Salicylate enthält. Im Februar 1899 werden das Patent und Markenrecht für Asprin® beim kaiserlichen Patentamt in Berlin eingetragen.
Wenig später wird Eichengrün Leiter der pharmazeutischen Abteilung bei Bayer. In den Folgejahren sieht er seinen Interessenschwerpunkt und die besseren Zukunftsaussichten indes in der Kunststoffentwicklung; so verlässt er die Bayer AG im Jahr 1908, um seine eigene Firma zu gründen, die Cellon-Werke in Berlin. 1909 wird sein neuer Kunststoff patentiert.
Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wird auch Arthur Eichengrün, der Fabrikant jüdischen Glaubens, zunehmend drangsaliert; das Präparat Aspirin® findet 1934 als „deutsche Errungenschaft“ Einzug ins Deutsche Museum München, ohne dass sein maßgeblicher Entwickler Eichengrün überhaupt Erwähnung findet. Statt dessen wird Eichengrüns Mitarbeiter Felix Hoffmann als alleiniger Aspirin® – Erfinder tituliert. Eichengrün erhebt Widerspruch und will den Hergang aus seiner Sicht erklären, wird jedoch von den braunen Machthabern mit Erpressungen und Drohungen zum Schweigen gebracht.
In der offiziellen Unternehmenskommunikation der Bayer AG ist es bis heute so, dass ausschließlich Felix Hoffmann als Erfinder genannt wird, obwohl spätestens seit der Veröffentlichung von Forschungsergebnissen des schottischen Medizinhistorikers Walter Sneader im Jahr 1999 die maßgebliche Beteiligung Eichengrüns kaum noch zu leugnen ist. Doch wenn nicht noch bisher unentdeckte Originalunterlagen auftauchen, werden sich die exakten Vorgänge bei der Erfindung des Wirkstoffs ASS wohl nicht mehr zweifelsfrei belegen lassen. Man kann wohl von einer Teamarbeit sprechen: Hoffmann synthetisiert erstmals chemisch reine Acetylsalicylsäure, nachdem Eichengrün ihm hierzu die entsprechenden Arbeitsanweisungen erteilt hat.
Nachdem sein Unternehmen von den Nationalsozialisten bereits 1938 „arisiert“ (enteignet) wurde, verschleppt man den inzwischen hochbetagten Eichengrün 1943 ins Konzentrationslager Theresienstadt. Er überlebt bis das Lager zum Kriegsende 1945 von der Roten Armee befreit wird. Nach kurzer Rückkehr nach Berlin siedelt Arthur Eichengrün 1948 ins oberbayerische Bad Wiessee über und stirbt dort mit 82 Jahren am 23. Dezember 1949.
Text: Alexander Strauch